Für alle praktisch tätigen oder in Ausbildung befindlichen (Lern-)Therapeuten möchten wir die Bedeutung der Erfahrungsebene hervorheben, da es in erster Linie diese ist, die das Lernen ermöglicht. Zum Beispiel können Sie einen Text darüber lesen, dass Perspektivenübernahme wichtig ist, also dass Sie sich in die Situation des Klienten hineinversetzen sollen und ihm für das Problem keine Lösung präsentieren sollen – oder Sie können im Rollenspiel Ihrem Gegenüber ein eigenes Problem schildern, hören wie es sagt, „Dann mache mal das und das“, und dann die Abwehr spüren, die Sie gegen diese Lösungsmöglichkeit haben, oder Sie vergessen den Vorschlag rasch wieder, oder Sie erinnern sich zwar später an ihn, haben aber keinen Impuls, ihn umzusetzen. Es ist eben nicht Ihre Lösung, sondern die Ihres Gegenübers. Erst dieses Gefühl, dass Sie Ihre eigene Lösung brauchen, macht das Verständnis für das Thema „Perspektivenübernahme“ vollständig. Erst dann sind Sie wirklich in der Lage, sich mit Lösungsvorschlägen für die Probleme anderer zurückzuhalten.
Erfahrung, Lernen und Entwicklung bilden eine Entwicklungsspirale (mehr dazu im Selbstverständnis des DIL im Abschnitt 1, Wie geschieht Lernen?). Dieser Zusammenhang hat auch eine Bedeutung für das therapeutische Selbstverständnis. Wenn die Qualität der therapeutischen Arbeit stark aus der Empathiefähigkeit resultiert und diese wiederum durch Erfahrungen erweitert wird, dann haben wir es auch dabei mit einem Kreislauf zu tun. In diesem Kreislauf verstärken sich Erfahrungen, die dadurch breitere Verfügbarkeit von Handlungen und Gefühlen, die Empathiefähigkeit und die therapeutische Arbeit gegenseitig. Somit sehen wir nicht nur den Klienten, sondern auch den Therapeuten beständig auf einem Weg des Wachstums und der persönlichen Entwicklung. Daher beziehen gute therapeutische Aus- und Weiterbildungen immer auch Formen der Selbsterfahrung für die Teilnehmer mit ein.
Wissenschaftlich untermauern lässt sich das Modell einerseits durch die Ergebnisse der Hirnforschung aus den letzten Jahren über die Spiegelneurone (s. dort). Zum anderen haben die Befunde und Überlegungen zum „Lernen am Modell“ (s. dort), das Albert Bandura in den 1970er Jahren im Rahmen seiner sozial-kognitiven Lerntheorie entwickelt und beschrieben hat, immer noch Gültigkeit. Schließlich spielt ein wichtiges Ergebnis der Psychotherapieforschung eine Rolle: entscheidender Faktor in der Therapie ist die zwischenmenschliche Beziehung zwischen Therapeut und Klient (und eben nicht die Psychotherapiemethode; siehe dazu auch das Stichwort Empathie).