Wir verfolgen das Ziel, Ressourcen zu stärken statt sich an Defiziten zu orientieren. Sicherlich kommen Eltern mit ihren Kindern in die Lerntherapie, weil sie bestimmte, oft konkret benennbare Defizite wahrnehmen. Ziel soll dann sein, diese Defizite zu beseitigen. In früheren Zeiten war der Ansatz, sich dann eben mit genau diesen Defiziten zu beschäftigen. Wenn heute ein Kind Nachhilfe erhält, obwohl eine Lerntherapie angezeigt wäre, dann geschieht genau diese Fokussierung auf das Defizit – nur welche Folgen hat das? Das grundlegende Problem liegt darin, in diesem Ansatz ausschließlich die Perspektive der Eltern und der Lehrer einzunehmen (“das Kind muss richtig lesen können“). Dies ist aber nicht die Perspektive des Kindes. Es steckt bereits so tief in der Problematik von Versagensgefühlen, Angst und Stress, dass kein Raum mehr für einen Wunsch wie „ich will lesen lernen“ da ist. Andernfalls würde es lesen lernen und nicht in die Lerntherapie gebracht werden. Um mit dem Kind arbeiten zu können, um überhaupt eine Aussicht auf langfristigen Erfolg zu haben, muss als erstes der Fokus vom Defizit weggenommen werden: „So, Du kannst nicht lesen. Also, das interessiert mich im Moment nicht so sehr. Was machst Du eigentlich gern? Ah, Basteln (oder Fußballspielen oder Musikhören oder Zusammensein mit Freunden oder was auch immer). Okay, dann basteln wir jetzt etwas.“
Wenn es um das Defizit geht, wird der Druck auf das Kind erhöht, das fühlt es sehr stark und das führt unmittelbar zu dem Verhalten, das als unangemessen wahrgenommen wird. Anders gesagt, wir laden das Kind regelrecht dazu ein, dieses Verhalten zu zeigen. Wenn das Kind sich entwickeln und entfalten soll, dann müssen wir mit den Dingen beginnen, die das Kind kann bzw. die es gern macht. Auf diese Weise kann der Therapeut zum Begleiter auf dem Weg werden. Ein wichtiger Aspekt dabei ist, mit dem Kind einen Kontext zu gestalten, in dem es neugierig auf seine Umwelt reagieren darf. Das schafft die Möglichkeit, auch wieder Neugier auf Wörter und Geschichten wachsen zu lassen, was wiederum Voraussetzung ist für die Bereitschaft, Lesen und Schreiben zu lernen.